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Arbeiten jenseits des Wachstums – Die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim

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Auf der Suche nach einer Zukunft jenseits des Wachstums haben wir, zwei Studierende aus Berlin, uns auf Reisen gemacht. Wir werden Orte besuchen, die bereits heute weit weg von Berlin und Brüssel gesellschaftliche Alternativen leben. Unser erstes Ziel: Die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim in Köln.

Von Sozialpädagogik zu Selbsthilfe

Die wohl häufigste Kritik an der Postwachstumsbewegung ist, dass sie elitär und auf dem sozialen Auge blind sei. Wohlstandsmüde Mittelstandskinder würden individuelle Einschränkungen im Konsum fordern und sich um die Probleme und Konflikte der ArbeiterInnen und Ausgegrenzten weltweit nicht scheren. So berechtigt diese Kritik ist – es gibt auch Beispiele dafür, dass eine Postwachstumsgesellschaft von ganz weit unten möglich ist, von dort, wo die sozialen Probleme den Ursprung bilden. Die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim (SSM) in Köln ist eines davon.

Anfang der siebziger Jahre hatte eine Gruppe von Studierenden aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) mit der Besetzung leerstehender Gebäude begonnen, um Wohnraum für sich und heimatlose Jugendliche zu finden. Unter dem Namen „Sozialpädagogische Sondermaßnahme Köln“ (SSK) wurden sie zur Anlaufstelle für junge Menschen, welche die Gesellschaft aussortiert und in Heime, Gefängnisse oder andere Anstalten gesteckt hatte.

Als die Stadt Köln 1974 Gelder strich, benannte sich die SSK in Sozialistische Selbsthilfe Köln um, aus der fünf Jahre später die SSM hervorging. Aus den „Fürsorgezöglingen“ wurden gleichgestellte Gemeinschaftsmitglieder, basisdemokratische Selbstorganisation und eine gemeinsame Ökonomie bestimmten von nun an das Zusammenleben.

„Hier ist alles Arbeit“

Über 30 Jahre später sitzen auf den Bänken vor der alten Schnapsbrennerei eine Handvoll Menschen, die aus den verschiedensten Gründen zur SSM gekommen sind: Um die Arbeitslosigkeit oder die unmenschlichen Bedingungen ihrer Erwerbsarbeit hinter sich zu lassen, um eine Notunterkunft zu finden, um Sozialstunden abzuleisten oder aus politischer Überzeugung. Sie rauchen noch schnell eine, bevor um 9 Uhr die wöchentliche Sitzung beginnt. Dort geht es um die Verteilung der alltäglichen Aufgaben: Wer macht mit bei den Wohnungsentrümpelungen, wer übernimmt den Verkauf im Laden, wer kocht das Mittagessen für die Gruppe, welche Gäste kommen als nächstes in die Seminar- und Schlafräume?

„Hier ist alles Arbeit, was der Gruppe wichtig ist“ erzählt uns Mitbewohner Stergios, als er uns im Anschluss an die Sitzung über das Gelände führt. Als Arbeit gelte das politische Engagement, die Hilfe bei den Entrümpelungen und im Laden genauso wie die Betreuung der Kinder und die Pflege von Angehörigen oder ein Arztbesuch.

Diese umfassende Definition von Arbeit ist bei der SSM auch erst mit der Zeit gewachsen. So musste beispielsweise die Anerkennung der Betreuung von Kindern und Angehörigen als Arbeit erst von den Frauen in der SSM erkämpft werden. Auch der Umfang des als SSM-Arbeit anerkannten politischen Engagements muss immer wieder ausgehandelt werden.

Das „Institut für Neue Arbeit“

Im Rahmen dieser Diskussionen entstand 1998 das „Institut für neue Arbeit„, das die Erfahrungen der SSM reflektieren und mit einer theoretischen Beschäftigung über Arbeit verknüpfen sollte. Schnell stellte sich heraus, dass in der SSM bereits seit Jahren weite Teile von Frithjof Bergmanns einflussreichem Konzept der „Neuen Arbeit“ umgesetzt werden. Bergmann geht davon aus, dass das System der Lohnarbeit in ein neues System übergehen muss, in dem Erwerbsarbeit zugunsten von Selbstversorgung und Arbeit, der man „wirklich, wirklich“ nachgehen will, auf ein Drittel reduziert wird.

Die Praxis der SSM zeigt, wie dieses Modell in der Umsetzung aussehen könnte: Von Beginn an wurde versucht, möglichst unabhängig vom marktwirtschaftlich organisierten Zugang zu Ressourcen zu leben. Sie heizen mit selbstgeschlagenem Holz, beziehen Lebensmittel von der Tafel und reparieren und verwenden Möbel, Kleidung und technische Geräte aus den Wohnungsentrümpelungen. So können sie sich selbst versorgen, ohne staatliche Hilfe (wie ALG II oder andere Formen der Sozialhilfe) zu beziehen. Vor allem aber das Verständnis von Arbeit als „alles, was für uns wichtig ist“, schließt die Aspekte der Selbstversorgung und des selbstbestimmten Arbeitens mit ein, wie es Bergmann fordert.

Arbeiten in Zeiten struktureller Arbeitslosigkeit

Steigende Arbeitslosigkeit besonders unter Jugendlichen ist eine Realität, die, zumindest oberflächlich betrachtet, nach mehr Wachstum schreit. Das gemeinschaftliche Leben und die politische Arbeit der SSM jedoch deuten auf etwas anderes: „Es gibt genug Arbeit weltweit, die erledigt werden will. Nur werden die Leute künstlich davon ausgeschlossen“, so Rainer, einer der Gründer der SSM.

Rainer ist der Meinung, dass nicht zu wenig Arbeit das Problem ist. Vielmehr sei die marktförmige Verwertung der Arbeit und der arbeitenden Menschen die Ursache der steigenden Arbeitslosigkeit. Einerseits würden Menschen von der Lohnarbeit ausgeschlossen, die der Markt als wertlos einstuft, andererseits die schädlichsten Dinge als produktiv angesehen. Die am Markt getroffene Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit „schreit“ für Rainer „nach Blödsinn“. Es fällt schwer, ihm zu widersprechen. Denn die SSM ist ein Beispiel dafür, dass jene Menschen, die der Arbeitsmarkt als „zu alt, zu schwach, zu krank oder zu behindert“ einstuft, sich selbstständig und unabhängig von Lohnarbeit in der Großstadt ernähren können.

Leistungsfähiger als der Markt

So zeigt die SSM als Praxisbeispiel auf, wie Arbeit in einer Postwachstumsgesellschaft organisiert sein könnte: Eine höhere Selbstversorgung an Gütern ersetzt einen guten Teil von Arbeit zu Lohnzwecken. Arbeiten in genossenschaftlichen Kollektiven ermöglicht eine individuelle Absicherung und Freiheit unabhängig von Marktstrukturen. Und die Bewertung der Arbeit nach Nutzen und nicht nach Marktwert ermöglicht das Ausschöpfen aller vorhandenen Fähigkeiten zu tatsächlich produktiven Zwecken. So lebt die SSM weitgehend suffizient und das erfolgreich. Ihre Existenz allein stellt die Alternativlosigkeit von Wirtschaftswachstum und Marktstrukturen zur Behebung der Arbeitslosigkeit in Frage. Rainer bringt es auf den Punkt, wenn er meint: „Wir sind leistungsfähiger als der Markt“.

Weitere Eindrücke und Bilder unseres Besuchs bei der SSM findet Ihr auf dem Blog „Fragend reisen„.

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