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Der Fortschritt steht unter „Schädlichkeitsverdacht“ – Nachruf auf Otto Ullrich

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Vor ein paar Wochen erschien ein Buch von Naomi Klein, das unter dem Titel „Kapitalismus vs. Klima“ nach vier Jahren Recherchen zwei Haupt-Thesen enthält: Die grundlegenden Paradigmen des Kapitalismus und seiner Technik wirken zerstörerisch auf die Lebensgrundlagen der Menschen; und: Das „Timing“ des Kampfes gegen den Klimawandel ist katastrophal – wir hätten in den 70er Jahren beginnen müssen, diese Paradigmen und damit auch die Technik grundlegend zu verändern. In den letzten fünf Jahren haben viele bekannte Intellektuelle in Deutschland, von Frank Schirrmacher bis zu Harald Welzer, ähnliche Einsichten publiziert. Das hätte ein bisschen früher kommen müssen….

Revolution der Technik

Heute ist es schon 36 Jahre her, dass Otto Ullrich genau diesen Paradigmenwechsel gefordert und auf der Basis grundlegender Analysen von Amery über Illich und Mumford bis Vester und nicht zuletzt, wenn auch mit einiger Kritik Marx, 1979 sein Buch „Weltniveau“ veröffentlichte. Er argumentierte damals nicht nur mit zahlreichen bereits bekannten naturwissenschaftlichen Daten, sondern regte an, den „Chinesentest“ zu machen: Was wäre, fragte er meine Studierenden der Ingenieurwissenschaften, wenn die Chinesen den gleichen Raubbau an der Natur betreiben, wenn sie also beginnen, unser Entwicklungs- und „Fortschrittsmodell“ nachzumachen? Seit 20 Jahren tun sie es. Ottos damalige Prognose: Wir benötigten 5 Planeten, wenn alle so handeln. Heute sind es nach dem letzten WWF-Report bereits über 1,5. Der Raubbau an der Biosphäre ist weit fortgeschritten

Technik und Herrschaft

Auch seine Dissertation „Technik und Herrschaft“ bestätigt sich inzwischen auf unheimliche Weise: Die Digitale Technik ist systematisch so gestaltet, dass Großkonzerne, Regierungen, Geheimdienste uns damit entmündigen. Mit den Konzepten „Industrie 4.0“ und „Internet der Dinge“ erreicht uns die Entmündigung überall im Alltagsleben. Dabei geht es nicht nur um eine kapitalistische Anwendung der ansonsten „neutralen“ Technik, wie gerade die klassische Linke gerne meint, sondern um ihre grundlegend gewalttätigen Strukturen. Die sah Otto darin, dass die „modernen“ Naturwissenschaften und die mit ihrer Hilfe entwickelte Technik genau wie der Kapitalismus von allem Lebendigen abstrahieren: Der Naturwissenschaftler und Techniker darf „sich nicht von Gefühlen, Emotionen, Träumen und eben von Geschmack, Gerüchen oder überhaupt von etwas irritieren lassen, was ein lebendes Wesen interessiert (Otto Ullrich, Weltniveau, 1979).

Der Fortschritt steht unter „Schädlichkeitsverdacht“

Die Analyse dieser Vereinigung zweier lebensfremder bzw. Lebens-feindlicher Gedanken- und Methodensysteme – Kapitalismus und Technik – als Gewaltverhältnis gegenüber den Menschen und der Natur war der intellektuelle Kern von Ottos Ablehnung des „Fortschritts“-Begriffs. Sein Verweis darauf, dass die Menschen des Industrialismus sich nicht freiwillig unter dieses Gewalt-Verhältnis bringen ließen, sondern durch physische und psychische „Zurichtung“, trug ihm die offene Wut vieler „Fortschrittsgläubiger“, aber auch von Naturwissenschaftler/innen ein. Diese provozierte er dadurch, dass er die modernen Naturwissenschaften „in den Giftschrank“ schließen und den „allgemeinen Nützlichkeitsglauben“ durch einen grundsätzlichen „Schädlichkeitsverdacht“ ersetzen wollte.

Otto war jedoch auch ein unnachsichtiger und penibler Kritiker an den eigenen Kolleg/innen, die sozial und ökologisch engagiert arbeiten: Er prüfte, ob Ideen und Ansätze zur Veränderung dieser Verhältnisse nur – verkleidet als revolutionär – die alten Verhältnisse fortschrieben. Er lebte konsequent nach seinen eigenen Maßstäben und verlangte das auch von anderen. So war er für mich (und vielleicht für andere Menschen auch) eine Instanz, die meine eigenen Ideen prüfte und sie dann oftmals als zu leicht befand.

Es war die historische Tragik, dass Mitte bis Ende der 1980er Jahre Ottos Analysen und wissenschaftliche Arbeiten gesellschaftlich mehr und mehr akzeptiert wurden, dann aber der „Reale Sozialismus“, den Otto genau so scharf kritisierte wie den Kapitalismus, zusammenbrach und diesen ungebremst und neoliberal noch radikalisiert als „Sieger der Geschichte“ erscheinen ließ.

Der gängige Fortschrittsbegriff ist für den Ingenieurberuf ungeeignet

Ich habe mit Otto zusammen über 30 Jahre lang jedes Semester für Studierende der Ingenieurwissenschaften an der TU Berlin und in Kooperation mit der IG Metall ein Seminar angeboten, in dem seine Analysen und Thesen großen Einfluss hatten. Mit seiner leisen Stimme, die ihre Rhetorik aus den Inhalten bezog, destruierte er das technisch-naturwissenschaftlich grundierte Weltbild der Moderne und damit auch die Vorstellungen vieler Studierenden über ihre künftige Aufgabe: Als IngenieurInnen einem humanen Fortschritt zu dienen.

Bei den meisten Studierenden führte dies zunächst zu einer Art Schock – nach längerem Nachdenken aber bei den meisten zu der Erkenntnis, dass mit dem herrschenden Begriff vom „Fortschritt“, der die Technikentwicklung an den Kapitalismus bindet und damit die soziale und ökologische Verschleißwirtschaft mit Hilfe der Ingenieure vorantreibt, auf keinen Fall weiter gearbeitet werden darf. Den damit aufkommenden Zweifeln einiger Studierender, ob der Ingenieursberuf ein verantwortungsvolles Handeln überhaupt ermögliche, begegnete er mit Beispielen für eine sanfte Technologie, mit Ansätzen für eine andere Wissenschaft und Technik und skizzierte eine grundsätzlich andere Ökonomie. In den Rücksprachen zum Seminar haben fast alle Studierenden betont, dass sie solche Erkenntnisse bislang nirgendwo im Studium gewinnen konnten und dass ihr Denken davon stark beeinflusst wurde. „Es gab für mich ein Denken vor dem Seminar und ein neues nach dem Seminar“, meinte später eine Teilnehmerin.

Blue Engineering – Ingenieur/innen für die Postwachstumsgesellschaft

Den irrationalen Abwehr-Reflex bei Menschen, die den klassischen Fortschritts- und Wachstumsglauben nicht aufgeben wollen, hat Otto über seine gesamte berufliche Laufbahn immer wieder erleben müssen. Bei uns im Seminar hat er sich inzwischen fast völlig gelegt, und die Studierenden sind dazu übergegangen, intensiv im Sinne von Ottos Kriterien nach den Alternativen zu suchen. Die Gründung der studentischen Initiative „Blue Engineer“ vor sechs Jahren in Berlin und vor fünf Jahren in Hamburg aus unserem Seminar heraus ist auch sein Verdienst: Sozial und ökologisch verträgliche, nicht vom kapitalistischen Rendite- und Wachstumswahn getriebene Technik zu gestalten, und das in der Ausbildung von Ingenieur/innen und dann auch im Berufsleben zu verankern, ist ihr Ziel.

Vielleicht passt der folgende Satz von Albert Einstein, den die Studierenden in der Ausstellung des „Blue Engineer“- Projektes bei der IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen präsentierten, ganz gut als Schluss für einen Nachruf auf Otto Ullrich: „Ich fürchte den Tag, an dem die Technologie die wichtigsten Elemente menschlicher Verhaltensweisen strukturiert. Die Welt wird nur noch aus einer Generation von Idioten bestehen“.

Wolfgang Neef war von 1989 bis 1993 Vizepräsident der TU Berlin. 1993 gründet er die "Zentraleinrichtung Kooperation" (heute "ZEWK") an der TU Berlin und leitet diese bis 2008. Nach seiner Verrentung 2008 gibt er weiterhin Seminare zur "Soziologie des Ingenieurberufs" für Ingenieur-Studierende an TU Berlin und TU Hamburg-Harburg, in Kooperation mit der IG Metall. Wolfgang Neef ist Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung und im wissenschaftlichen Beirat von attac.

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