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Post-Development-Diskurs: Lektionen für die Degrowth-Bewegung (Teil 2)

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Im ersten Teil dieses Beitrags wurde in entwicklungskritische Diskurse eingeführt, in denen seit Jahrzehnten das westliche Wohlstands- und Wachstumsmodell dekonstruiert wird.

Die Anknüpfungspunkte zwischen Entwicklungs- und aktueller europäischer Wachstumskritik – und den im nächsten Schritt formulierten Alternativvorschlägen – sind zahlreich. Im Folgenden sollen nur einige bedeutende Gedankenlinien aufgenommen werden.

So findet etwa der in der Postwachstumsbewegung populäre Suffizienzdiskurs, also die Idee des Genug (siehe Linz 2004, Schneidewind und Zahrnt 2013, Winterfeld 2007/2011), seine Entsprechung in der entwicklungskritischen Literatur, auch wenn er dort teilweise unter anderen Begrifflichkeiten auftaucht (siehe z.B. Salleh 2009, Tévoédjrè 1979). Ein kritisch verstandener Suffizienzbegriff – der nicht nur einen moralischen Appell an individuelles Konsumverhalten darstellt, sondern politische und ökonomische Strukturen ins Auge fasst – definiert das „Genug“ in beide Richtungen und enthält somit einen wichtigen Anspruch auf (globale) soziale Gerechtigkeit. Da gibt es nicht nur ein „Zuviel“, sondern auch ein „Zuwenig“. Askese wird als ebenso wenig wünschenswert und notwendig verstanden wie Verschwendung und Überfluss. Eine solche Orientierung auf einen ausreichenden materiellen Lebensstandard, die genügend Platz für andere Elemente menschlichen Wohlbefindens lässt, wird nicht nur von der Postwachstumsbewegung als dringend benötigtes Korrektiv verstanden, sondern auch in der Entwicklungskritik als Alternative zu kapitalistischer Entwicklungslogik akzeptiert.

Das noch beliebtere Schlagwort „Commons“ (vgl. Helfrich und Bollier 2013) ist ein ähnlicher Fall. So basiert die Orientierung an gemeinschaftlicher Produktion und Organisation „jenseits von Markt und Staat“ auf prä- bzw. noch existierenden nichtkapitalistischen Organisationsformen, die überall auf der Welt von kapitalistischen Modernisierungsprozessen entweder bereits verdrängt wurden oder denen eine solche Verdrängung gegenwärtig droht. Diesen Modellen liegen radikal andere Menschenbilder zugrunde als marktwirtschaftlicher Organisation, die vom stets Eigennutz kalkulierenden „Homo Oeconomicus“ ausgeht, einer engstirnigen Karikatur von Menschlichkeit. „Commons“-basierte Ansätze verbinden ökonomische Bedürfnisse mit Verantwortung für die Ökosysteme, deren Teil Menschen sind, und dem Bedürfnis nach menschlicher Gemeinschaft und Kommunikation. Sie verlangen ein enorm hohes Maß an lokaler Demokratie und Selbstverwaltung. Solche Perspektiven einzunehmen, ist im Kontext durchmodernisierter, bürokratischer Gesellschaften eine Herausforderung, bei der die Beschäftigung mit Entwicklungskritik äußerst förderlich sein kann.

Es gibt jedoch auch problematische Parallelen. So findet die reaktionäre Version von Wachstumskritik (vgl. etwa Miegel 2010, kritisch dazu: Bouvattier 2011) ihr Äquivalent in denjenigen entwicklungskritischen Ansätzen, die ohne Rücksicht etwa auf Geschlechterrollen oder individuelle Identitätsfragen „traditionelle“ Gesellschaftsstrukturen als messianische Heilsversprechen dem Übel der Modernisierung entgegenstellen (kritische Diskussion bei Ziai 2007). Solche Vorstellungen verdeutlichen, wie wichtig eine kritische Auseinandersetzung auch mit solchen Positionen ist, die sich dieselbe Zielscheibe ausgesucht haben, aber letztlich aus einer ganz anderen Warte schießen. Die Assoziation einer Bewegung mit solchen Positionen schreckt nicht zuletzt potentielle Verbündete im progressiven Spektrum ab, die sich möglicherweise von einer intelligenten und reflexiven Wachstumskritik überzeugen ließen. Hier gilt es gegebenenfalls klare Abgrenzungen vorzunehmen.

Lektionen für die Degrowth-Bewegung

Eine nähere Beschäftigung mit entwicklungskritischer Literatur zeigt starke Parallelen zur aktuellen europäischen Wachstumsdebatte auf. Viele Kritikpunkte an westlichen Lebensweisen, die im europäischen Kontext gerne als Luxusprobleme saturierter Mittelschichten abgetan werden, werden in sehr ähnlicher Form seit Jahrzehnten von Stimmen aus Regionen geäußert, deren Lebenswelten noch nicht vollständig von kapitalistischer Modernisierung erfasst wurden und sich gegenwärtig in schmerzhaften Auseinandersetzungen mit diesen Modernisierungsprozessen befinden. Dort tritt der Kontrast zwischen westlich-modernen Weltanschauungen und alternativen Perspektiven viel schärfer hervor.

Schnell wird deutlich: Anders als in westlichen Diskursen gebetsmühlenartig wiederholt, wartet nicht die ganze Welt nur darauf, westliche Lebensstile endlich nachahmen zu können, auch wenn deren Verlockungen sicherlich nach wie vor eine starke Anziehungskraft ausüben. Tatsächlich entsteht ein wesentlich komplexeres Bild. Der allgegenwärtige Wunsch, nicht in materiellem Elend leben zu müssen, sollte jedenfalls nicht gleichgesetzt werden mit dem Wunsch nach dem Leben im westlichen Wachstumsmodell. Die Erfüllung des ersteren Wunsches mag sogar die bewusste Zurückweisung des Letzteren voraussetzen.

In jedem Fall täte es der Postwachstumsbewegung gut, die Bedürfnisse wohlhabender, burnout-bedrohter Europäer_innen im Kontext globaler Entwicklungen zu betrachten. Dieselben kapitalistischen Dynamiken mit ihren geographisch ganz unterschiedlichen Auswirkungen liegen dem hektischen Arbeitsleben im westlichen Büroalltag und dem Elend, das Landgrabbing und Privatisierung, Rohstoffextraktivismus und Korruption in Afrika oder Lateinamerika verursachen, zugrunde. Herrschafts- und kapitalismuskritische Schlussfolgerungen drängen sich hier auf, denen eine gutgemeinte Zustimmung zu vage definiertem „Wachstum“ – oder „Entwicklung“ – im globalen „Süden“ keinesfalls gerecht wird. Sie greift deutlich zu kurz. Stattdessen gilt es ein qualitativ anderes Verständnis von Wohlstand und Fortschritt zu entwickeln, das aus all diesen Perspektiven annehmbar und gleichzeitig mit politischer Konfliktbereitschaft verbunden ist.

Viele teilweise heute noch existente Subsistenzstrukturen mitsamt ihrer philosophischen Grundlagen stellen hier eine wichtige Inspirationsquelle dar, auch und gerade für Menschen in westlichen (Post-)Industriegesellschaften. Ketzerisch formuliert ergibt sich eine Umkehrung altbekannter „Entwicklungs“-Weisheiten. Plötzlich sind es „entwickelte“ westliche Lebensstile, die offensichtliche Defizite aufweisen – und Gegenentwürfe aus anderen Weltregionen, die Maßstäbe setzen. Auf monetäres Wirtschaftswachstum laufen solche Lösungen abseits des Marktes nicht hinaus.

Erste hoffnungsvolle Signale gibt es schon. Das Interesse an der lateinamerikanischen „Buen Vivir“-Bewegung (spanisch für „gutes Leben“ bzw. „gut leben“; siehe Acosta 2011, Gudynas 2011), die explizit in entwicklungskritischer Tradition steht, ist jedenfalls in der europäischen Postwachstumsbewegung groß. Die auffälligen Parallelen zwischen dem Verständnis nach „gutem Leben“ auf beiden Seiten des Atlantiks lösen einen Aha-Effekt aus. Diese Kontakte zu vertiefen, ist sicher ein lohnenswertes Unterfangen.


Literaturverzeichnis

Acosta, Alberto (2011). Buen Vivir auf dem Weg in die Post-Entwicklung. Ein globales Konzept? In: Rätz et al. (Hrsg.). Ausgewachsen! Hamburg: VSA, 173-183

Bouvattier, Adèle (2011). Raus aus dem Patriarchat: Eine verleugnete Herausforderung für die Décroissance-Bewegung?

Gudynas, Eduardo (2011). Buen Vivir: Germinando Alternativas al Desarrollo. In: América Latina en Movimiento, 462, 1-20

Helfrich, Silke and David Bollier [Hrsg.] (2013). The Wealth of the Commons. A World Beyond Market and State. Levellers Press

Linz, Manfred (2004). Weder Mangel noch Übermaß: Über Suffizienz und Suffizienzforschung. Wuppertal Papers 145

Miegel, Meinhard (2010). Exit. Wohlstand ohne Wachstum. Berlin: Propyläen

Salleh, Ariel [Hrsg.] (2009). Eco-Sufficiency and Global Justice. Women Write Political Ecology. London and New York: Pluto Press

Schneidewind, Uwe und Angelika Zahrnt (2013). Damit gutes Leben einfacher wird. Perspektiven einer Suffizienzpolitik. München: Oekom

Tévoédjrè, Albert (1979). Poverty. Wealth of Mankind. Oxford: Pergamon Press

Winterfeld, Uta von (2007). Keine Nachhaltigkeit ohne Suffizienz. Fünf Thesen und Folgerungen. In: Vorgänge, 2007(3), 46-54

Winterfeld, Uta von (2011). Vom Recht auf Suffizienz. In: Rätz et al. (Hrsg.). Ausgewachsen! Hamburg: VSA, 57-65

Ziai, Aram (2007). The Ambivalence of Post-development. Between Reactionary Populism and Radical Democracy. In: Ziai (Hrsg.). Exploring Post-development. Theory and Practice, Problems and Perspectives. Abingdon and New York: Routledge, 111-28

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