Neues aus der Wissenschaft

Vielheit realer und potentieller Postwachstums-Akteure

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Gegenwärtig gibt es nach meinen Beobachtungen in Deutschland vor allem fünf oder sechs (personell überlappende) Typen von Akteuren, die als ProtagonistInnen eines Richtungswechsels im Sinne von Postwachstum hervortreten. Das sind zunächst (a) intellektuelle und publizistische „Wortführer“ von radikaler Wachstumskritik und Postwachstumsvisionen. Zumeist sind es publizistisch rege Wissenschaftler wie Niko Paech, die maßgeblich die gegenwärtige, bereits vor der multiplen Krise von 2008 ff. einsetzende Welle der Wachstumskritik initiiert haben. Sie werden zuweilen avantgardistisch als Deutungs- bzw. Vermittlungselite bezeichnet (Stengel 2012) und sehen sich wohl zum Teil auch selbst in dieser Rolle.

Hierzu gehören auch jene neomarxistisch, feministisch, regulationstheoretisch etc. argumentierenden Akteure, die zunächst eher kritisch auf Thesen von Wachstumskritikern reagierten (z.B. Altvater 2011), deren Konzepte jedoch implizit auf radikale Kritik von und Alternativen zu kapitalistischen Akkumulations- und Wachstumsimperativen und ihren diversen Herrschaftsformen hinauslaufen. Sie verorten sich nunmehr zum Teil auch in einer der wachstumskritischen Strömungen. Dies ist zugleich ein Indiz der Sogkraft und Dynamik des Diskurses um „Postwachstum/ Degrowth“, dessen Vielfalt der Sichten auf Ursachen, Alternativen, Übergangsstrategien sich damit erweitert.

Eine weitere Gruppierung bilden (b) Organisationen und Initiativen, die sich bereits im Ergebnis der jüngsten wachstumskritischen Welle gegründet (Konzeptwerk Neue Ökonomie, Förderverein Wachstumswende und viele andere mehr) oder konzeptionell (um)orientiert haben (z.B. die Vereinigung Ökologisch Ökonomie – VÖÖ). Sie waren maßgebliche Initiatoren und Träger des Degrowth-Kongresses in Leipzig. Hier ist vor allem auch die junge Generation von AkademikerInnen vertreten.

(c) Auch ein beträchtlicher Teil der Mitglieder und SympathisantInnen von ökologischen, globalisierungskritischen, internationalistischen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Verbänden, NGOs, Forschungsgruppen, die sich programmatisch auf (starke) „Nachhaltigkeit“ und Ansätze einer sozialökologischen Transformation beziehen, ist zu ProtagonistInnen oder SympathisantInnen einer Postwachstums-Wende geworden. „Attac“ steht hier exemplarisch für einen kollektiven Erkenntnisprozess, den Teile der Anhängerschaft durchlaufen haben.

(d) Aber auch auf anderen Themen- und Konfliktfeldern agierende kulturell- lebensweltlich oder primär politisch-aktivistisch orientierte linke bzw. antikapitalistische Gruppen, Gemeinschaften und Initiativen, die seit längerem existieren, verorten sich zum Teil unter diesem Label bzw. sie interpretieren Postwachstum positiv.

(e) Des Weiteren gibt es in fast allen Parteien, ihren Stiftungen und Jugendorganisationen, in Gewerkschaften, Glaubensgemeinschaften, Behörden etc., die nicht programmatisch oder mehrheitlich auf Nachhaltigkeit oder Wachstumskritik „geeicht“ sind, mehr oder weniger einflussreiche Minderheiten oder QuerdenkerInnen, die wachstumskritische Positionen vertreten oder ihnen nahestehen. In Bezug auf Parteien (mit Ausnahme der FDP) und zum Teil auch Gewerkschaften wurde dies auch in den Debatten der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages (17. Wahlperiode) „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ deutlich.

Erweiterungsfähig ist der Personenkreis, der für dieses Thema ansprechbar und mobilisierbar ist, zumindest in zweierlei Hinsicht. Einmal innerhalb der bereits erwähnten Gremien, Gruppen, Szenen, indem von „außen“ und von innen durch Diskurs, lockere Vernetzung, interne Auseinandersetzungen etc. der Einfluss von Postwachstums-ProtagonistInnen verstärkt und der Kreis der für solche Themen Aufgeschlossenen erweitert wird. Zum anderen vermute ich potenzielle „Degrowthler“ in der Szene von (zumeist studierenden) jungen Menschen, die das Gefühl haben, dass in unserer („konsumistischen“) Kultur und Gesellschaft grundsätzlich etwas schief läuft, die Postwachstuns-Themen und Konsequenzen für ihre Lebensführung diskutieren und nach Lebensentwürfen suchen, die Sinn stiften jenseits von Karriere, Konsum, Normalfamilie. Dies kann eine politisierende biographische Passage zu einer der oben genannten Gruppierungen sein.

Die soziale, kulturelle, politische und theoretische Heterogenität der Postwachstumsszene ist per se weder Vor- noch Nachteil, eher ein Indiz für die gesellschaftliche Relevanz der gemeinsamen Thematik. Um eine soziale Bewegung handelt es sich in Deutschland dabei allerdings (noch) nicht (Brand 2014). Anders in Frankreich, Spanien, Italien, wo solche Ansätze bereits seit mehreren Jahren existieren (Muraca 2014). Jedoch könnte daraus eine Kraft entstehen, die maßgeblich dazu beiträgt, unter dem Label „Postwachstum“ oder „Degrowth“ ein neues soziales Paradigma hegemonial zu machen. Dafür spricht auch das integrative und mobilisierende Potential dieses Themas.


Altvater, Elmar (2011): „Wer von der Akkumulation des Kapitals nicht reden will, soll zum Wachstum schweigen“. Christian Zeller im Gespräch mit Elmar Altvater. In: Emanzipation, 1.Jg. H.1, S. 1-21.

Brand, Ulrich (2014): Degrowth: Der Beginn einer Bewegung? In: Sand im Getriebe, Nr. 112, S. 29-30.

Muraca, Barbara (2014): Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums, Berlin.

Stengel, Oliver, Suffizienz (2012): Die Konsumgesellschaft in der ökologischen Krise, in: Woynowski, Boris et al. (Hg.), Wirtschaft ohne Wachstum?! Notwendigkeit und Ansätze einer Wachstumswende, Reihe Arbeitsberichte des Instituts für Forstökonomie der Universität Freiburg (59), S. 284-296.

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